Dr. Knut Petersen (BSL)
Max Kubisch (BSL)
Dr. Hendrik Koch (mobilité)
Mittlerweile ist jedem wohl klar geworden, welche zahlreichen “Einschläge” die COVID-19- bedingte Pandemie im städtischen ÖPNV in Deutschland bewirkt hat. Auch wenn wir ab Mitte Mai aufgrund von ersten Lockerungen der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eine leichte Erholung im Verkehrsmarkt sehen, sind die negativen Auswirkungen immer noch immens.
Während die Verkehrsnachfrage bei einzelnen Mobilitäts-Indikatoren insgesamt wieder auf ein Niveau von ca. 80% der üblichen Werte [1] vor der Corona-Krise zurückgekehrt ist und sich weiter normalisiert, sehen wir im ÖPNV in vielen Fällen noch eine Halbierung der Kundenzahlen. Demnach hat der Anteil der Individualverkehrs (Rad und MIV) zugenommen.
Die “Einschläge” für den deutschen ÖPNV waren heftig und umfassten zahlreiche Aspekte der Verkehrsunternehmen. Doch während die kurzfristigen, fatalen wirtschaftlichen Auswirkungen mittlerweile relativ klar sind, bleibt zu fragen, wie sich diese wohl mittel- und langfristig entwickeln werden. Worauf müssen sich die Städte einstellen, um ihre Verkehrsunternehmen als Teil der kritischen Infrastruktur, der Verkehrswende und eines städtischen Klimaschutzkonzeptes nachhaltig zu erhalten und gerade jetzt weiter zu entwickeln ?
Wir haben dazu wesentliche Eckwerte auf der Kosten- und Erlösseite in unseren wirtschaftlichen Planungsmodellen simuliert und möchten damit die wesentlichen wirtschaftlichen Entwicklungen bei Kosten und Erlösen für die Verkehrsunternehmen darstellen, um auf dieser Basis zunächst ein Problembewusstsein für die Größe des Gesamt-Effektes auf die zu erwartende Defizitentwicklung der deutschen Verkehrsunternehmen aufzuzeigen.
Wesentlich ist uns dabei, diese Prognose nicht allein auf die Betrachtung von Nachfrage-Rückgängen abzustellen, sondern gleichzeitig auch die möglichen Anpassungseffekte der Verkehrsunternehmen auf der Kosten- und Kapazitätsseite sowie die Berücksichtigung des „Social Distancing“ im ÖPNV zu berücksichtigen .
Auf der Einnahmenseite des ÖPNV haben wir sehen können, dass die Nachfrage in der ersten Phase des Lockdowns ab Mitte März insgesamt kurzfristig auf ein Niveau zwischen 10% und 20% ggü. dem Status quo eingebrochen ist. Die einzelnen Nachfragesegmente (Schülerverkehr, Berufspendler, Alltag- und Freizeitverkehr) waren vom Lockdown und der ersten Phase der Erholung jedoch sehr unterschiedlich stark betroffen und haben auch sehr differenziert von ihren Erlösstrukturen her reagiert. Diese einzelnen Kunden-Segmente der Verkehrsunternehmen werden auch sehr unterschiedliche „Normalisierungspfade“ in der aktuellen Phase der Lockerungen und des „Hochlaufens“ haben.
Neben den direkten negativen Erlös-Effekten durch Nachfragerückgänge sind auch weitere Effekte durch die Veränderungen der Tarifergiebigkeit absehbar, da die Auswirkungen in den Tarifsortimenten unterschiedlich ausfallen. In diesem Kontext sind die Anteile von Abos/ Jahreskarten und der Anteil der Selbstzahler im Ausbildungsverkehr die zentralen Einflussgrößen auf die Effekte.
Insgesamt ist ein überproportionaler Einbruch im Bartarif entstanden, der somit einen Rückgang der Tarifergiebigkeit in den meisten Nachfragesegmenten induziert. Durch eine erste Erholung kann diese aber auch wieder stabilisiert werden.
Ebenfalls sind zusätzlich zeitliche Verschiebungen zwischen Nachfragerückgang und Erlösrückgang zu erwarten, da kurzfristig eine Nichtnutzung nicht direkt zu Kündigungen/Rückgabe von Abos/Jahreskarten geführt hat. Insbesondere im Bereich Schülerverkehr und Berufspendler ergibt nur ein Teil des Nachfragerückgangs eine direkte Erlöswirkung. Somit ergeben sich im Ergebnis kurzfristig unterproportional sinkende Erträge. Die Ergiebigkeit wird zwar auch zurückgehen, jedoch ergeben sich durch die Bindung von Kunden über Abos und Jahreskarten gewisse Stabilisierungseffekte.
Hier besteht aber auch die massive Gefahr von Verschiebungen der Erlösrückgänge durch eine mittelfristige Wirkung von Kündigungen im Bereich der Zeitkarten. Unsere Prognosen ergeben – unter differenzierter Berücksichtigung der genannten Effekte für die unterschiedlichen Nachfragesegmente im ÖPNV mit einer kurzfristigen Absenkung der Nachfrage in der ersten Phase von bis zu rund 85% – Erlössenkungen um „nur“ rund 50%.
Die wesentliche Frage auf der Leistungsseite bleibt, ob und wie der ÖPNV auf diese deutlichen Nachfrage- und die immer noch erheblichen Erlöseinbrüche reagieren kann und soll. Natürlich könnte der ÖPNV versuchen, die Leistungen und Kosten analog der sinkenden Fahrgastnachfrage aufgrund der Corona-Pandemie auch deutlich herunterzufahren.
Unabhängig von der Frage der verkehrlichen und sozialpolitischen Sinnhaftigkeit einer solchen Angebotsanpassung der Mobilitäts-Grundversorgung für alle in einer solchen Krise, haben wir untersucht, welche Effekte sich bei einer drastischen Angebotsanpassung ergeben würden. Im Wesentlichen ergeben sich dabei die folgenden dreierlei Widerstände und Schwierigkeiten, die zu berücksichtigen sind:
Last but not least sind nicht nur die systemisch vorgegebenen Kostenstrukturen und deren Kosten-Verhalten bei den Kostenanpassungen zu berücksichtigen, sondern darüber hinaus auch zusätzliche Kosten, die durch die Pandemie anfallen. Dazu gehören vor allem die Kosten für zusätzliche Hygienemaßnahmen sowie für Marketing- und Imagemaßnahmen.
Weitere zu berücksichtigenden Kosten des „Social Distancing“ sind in den kurzfristigen Prognosen und Kalkülen noch nicht berücksichtigt, weil die derzeitig geringe Nachfrage dies bisher noch ganz automatisch geregelt hat. Wenn die Nachfrage jedoch weiter steigt, würde „Social Distancing“ im ÖPNV dazu führen, dass die Fahrzeugkapazität zukünftig nur zu rund 20 % maximal ausgelastet werden könnten. In einem Solobus mit rund 60 Plätzen der Vor-Corona-Zeit werden zukünftig also nur rund 12 Plätze belegt werden können, solange die Mindestabstände des „Social Distancing“ noch relevant sind.
Während die 20 % Auslastung im Durchschnitt etwa der Gesamtauslastung des deutschen ÖPNV vor Covid19 entspricht, würde dies in den Hauptverkehrszeiten zu massiven Kapazitätsproblemen führen. Mittel- und langfristig müssen dazu entsprechende Konzepte entwickelt werden, die die spezifischen Angebotskosten möglicherweise massiv erhöhen könnten.
Im Ergebnis würden sich also kurzfristig selbst bei deutlichen Angebotseinschränkungen, (die jedoch so nirgendwo umgesetzt wurden !) kurzfristig nur sehr geringe Effekte auf der Kostenseite zeigen. Einer (theoretischen) nachfrageadäquaten Kapazitätsanpassung um rund 80% würden nach unseren differenzierten Funktionskostenanalysen unter den spezifischen Unternehmensprämissen der Leistungsstrukturen die Kosten ohne Berücksichtigung der zügigen Abbaufähigkeit nur um rund 30-40% sinken.
Wenn wir die Kostenremanenzen auch berücksichtigen, ergeben sich für die nächsten zwei Quartale sogar nur Kostensenkungsmöglichkeiten von rund 10 %.
Unsere Analysen zeigen dabei immer wieder, dass das ÖPNV-Gesamtsystem auf der Kostenseite nur sehr langsam reagieren kann und sich wie ein „schwerer Tanker“ verhält, der nur auf sehr lange Sicht gesteuert werden kann. Vielleicht sind dies ja auch gute Gründe nicht zu hektisch an der Angebotsschraube drehen zu wollen – ein kurzfristiger Effekt ist damit ohnehin nicht zu erzielen !
Zusammen mit den dargestellten Entwicklungen auf der Nachfrage- und den Verzögerungen auf der Erlösseite ergeben sich mit diesem „Tanker-Effekt“ extrem steigenden Defizitentwicklungen, wie die folgende Abbildung zeigt:
Schon bei der Betrachtung der absoluter Höhe des Defizites ist eine rund bis zu 80 %ige Steigerung des Defizits zu erwarten. Aber vor allem wenn man dabei auch die enormen Nachfragesenkungen berücksichtigt und das spezifische Defizit pro Fahrgast betrachtet, welches im Jahresmittel um das Drei- bis Vierfache steigen wird, zeigt sich das gigantische Ausmaß der Herausforderung sehr deutlich.
So wie diese Prognosen der kurzfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 auf den ÖPNV von dem positiven Dämpfungs-Effekt auf der Einnahmenseite und dem Tanker-Effekt auf der Kostenseite geprägt sind, so muss mittelfristig damit gerechnet werden, dass:
Wie die Beteiligten (Verkehrsunternehmen, Verbünde, Bestellerorganisationen und Eigentümer) darauf reagieren sollten, werden wir in einem nächsten Beitrag darstellen. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie sich die Nachfrage tatsächlich entwickeln wird und welche Leistungsanpassung von den ÖPNV-Unternehmen umgesetzt werden wird.
[1] https://www.infas.de/fileadmin/user_upload/infas_Mobilit%C3%A4tsreport_20200610.pdf
22. Juni 2020