Deutschlandticket, was geht?
Eine erste Einordnung der Verkaufs- und Marktforschungsergebnisse in 5 Thesen

von Niklas Bark, Sophie Grahl und Dr. Hendrik Koch, 20. Juli 2023

Das Deutschlandticket ist nun bereits ein paar Monate auf dem Markt – Was sind die ersten Erkenntnisse? Anhand erster Verkaufszahlen (siehe u.a. Veröffentlichung VDV-Zahlen[1]) und Ergebnissen unterschiedlicher Befragungen der Nutzer*innen (bspw. im HVV[2], MVV[3] und VBN[4]) lässt sich ein erster Einblick in die Auswirkungen und Beliebtheit des Tickets gewinnen.

These 1: Das Deutschlandticket wird größtenteils von Personen erworben, die vorher preislich ähnliche oder teurere ÖPNV-Produkte genutzt haben.

Aus aktuellen Umfragen geht hervor, dass 73% der befragten Deutschlandticket-Besitzer*innen das Produkt[5] kauften, weil sie damit Kosten sparen, da das Ticket günstiger ist als andere Ticket-Alternativen oder deren bisheriges Abonnement. Dies spiegeln auch die Nutzungszahlen wider:

  • 49% der Deutschlandticket-Nutzer*innen besaß vor der Einführung schon ein ÖPNV-Abo-Produkt. Diese Nutzer*innengruppe wurde automatisch oder aktiv in das Deutschlandticket überführt, weil deren Vorgänger-Produkte in der Regel (und teilweise deutlich) teurer waren oder nicht mehr verfügbar sind. Diese Nutzer*innengruppe besitzt das Deutschlandticket also vor allem wegen der Kostenersparnis und hat ihr Verhalten nicht wesentlich geändert (vgl. These 1).
  • Weitere 43% der Deutschlandticket-Besitzer*innen sind von Zeitkarten (ohne Abonnement) und Bartarifen auf das Deutschlandticket umgestiegen. Auch unter dieser Gruppe dürften viele Personen sein, die zuvor etwa genau so viel oder mehr für ÖPNV-Produkte ausgegeben haben, wie heute mit dem Deutschlandticket. Die Nutzungsschwelle von 50 EUR induziert somit einen Wechsel von Nutzer*innen, die zuvor eine Monatskarte, zwei Wochenkarten oder häufig Bartarif-Produkte erworben haben hin zum Deutschlandticket.

Insbesondere Personen, die den ÖPNV weniger regelmäßig nutzen, in diesem Fall aber auch nahe der Nutzungsschwelle liegen, dürften in den nächsten Monaten (zumindest zeitweise) noch auf das Deutschlandticket umsteigen. Hier werden mögliche Kostenvorteile für diese Gruppen im Vergleich zum vorherigen 9-Euro-Ticket erst zu einem späteren Zeitpunkt bemerkbar.

These 2: Neukund*innen (vorher seltene ÖPNV-Nutzung) gewinnt man nur bedingt mit Flatrate /Abo-Produkten.

Durch das Deutschlandticket werden insbesondere in den Ballungsgebieten z.B. München[3] oder Hamburg[2] neue Abo-Kund*innen im 6-stelligen Umfang gewonnen. Im HVV bereits mehr als eine Viertel-Million.

Die Daten des VDV[1] zeigen aber auch: Die aktuellen Deutschlandticket-Nutzer*innen sind fast ausschließlich (zu 93%) Personen, die zuvor schon den ÖPNV genutzt haben. Mit Blick auf die Gesamtheit der Befragten deuten die Befragungsergebnisse an, dass das Deutschlandticket im ersten Gültigkeitsmonat für etwa 1% der deutschen Bevölkerung einen Einstieg in die ÖPNV-Nutzung veranlasst hat. Noch lässt sich nicht sagen, inwiefern diese Neukund*innen den ÖPNV langfristig nutzen werden.

Um zu verstehen, warum der Anteil an Neukund*innen verhältnismäßig gering ist, lohnt sich ein Blick auf die genannten Nichtkaufgründe[6]. 77% der befragten Personen, die noch nie im Besitz eines Deutschlandtickets waren, begründeten dies mit fehlendem Bedarf, etwa weil sich dieses preislich nicht für sie lohnen würde oder das Abonnement nicht die richtige Produktgattung für sie ist. Ebenso wird als Grund der generellen Nichtnutzung die fehlende Verfügbarkeit des ÖPNV in einigen Regionen genannt. Dies zeigt beispielweise die Erkenntnis, dass das Deutschlandticket in weniger besiedelten Regionen einen geringeren Bekanntheitswert hat und weniger Nachfrage generiert als in Vergleich zu Großstädten[7].

Diese Ergebnisse legen den Rückschluss nahe, dass man Neukund*innen nur bedingt mit Pauschalpreis-Tickets gewinnt. Vielmehr geht es darum, Hemmschwellen für Nicht-ÖPNV-Nutzer*innen abzubauen und attraktive Angebote für Selten-Nutzer*innen zu schaffen, sowie das Angebot weiter auszubauen.

These 3: Das Marktpotential des ÖPNV wird mit dem Deutschlandticket nur partiell gehoben und führt nur in einzelnen Segmenten zu signifikanten Verlagerungseffekten vom MIV zum ÖPNV.

Diese These wird durch erste Markforschungen, die den kleinen Anteil an Systemeinsteiger*innen (7%) im ÖPNV zeigt, aber auch an dem großen Anteil an Personen, die kein Deutschlandticket besitzen und auch nicht beabsichtigen in näherer Zukunft eines zu erwerben (69%) bestätigt. Dass demzufolge auch eine Verlagerung des MIV zum ÖPNV auszubleiben scheint, bestätigen die aktuellen Aufzeichnungen des Kartierungsanbieters TomTom[7]. In diese konnten beispielweise noch keinen signifikanten Rückgang des MIV seit Gültigkeit des Deutschlandtickets in den 27 untersuchten Städten nachgewiesen werden.

Jedoch zeigen aktuelle Auswertungen von Mobilfunkdaten[8] einen ersten kleinen Verlagerungseffekt vom MIV auf die Schiene insgesamt (Zuwachs ca. 2,5%). Insbesondere im Bereich der Pendler*innenstrecken über 30 km ist ein Anstieg des Schienenanteils um 25% ggü. April vor Einführung des Deutschlandtickets zu sehen. Ebenso scheint es regionale Unterschiede und Erfolgsbeispiele zu geben. Die Marktforschungsergebnisse des HVV zeigen, dass fast ein Viertel aller Fahrten mit dem Deutschlandticket bei Neukund*innen vom MIV hin zum ÖPNV verlagert wurden[2].

Insgesamt zeigt sich demzufolge, dass im Segment Neukund*innen in den Metropolregion sowie im Segment Mittelstrecken-Pendler*innen auf der Schiene ein positiver Effekt der Verkehrsverlagerung zu sehen ist.

These 4: Insbesondere für Nicht- oder Selten-Nutzer*innen des ÖPNV sind flexiblere Produkte notwendig, die am Status Quo-Mobilitätsverhalten anknüpfen.

Wie bereits in These 2 erörtert, legen die Befragungsergebnisse nahe, dass ÖPNV-Nicht- oder Selten-Nutzer*innen nicht mit Pauschalpreistickets für den ÖPNV zu gewinnen sind, sondern sehr viel flexiblere Produkte benötigen, die an deren Status Quo-Mobilitätsverhalten anknüpfen und von da ausgehend attraktive Angebote mit niedrigen Hemmschwellen darstellen.

Relevant für solche Angebote könnten folgende Aspekte sein:

  • Leicht verständliche Nutzungsregeln (statt bspw. komplexer Zonen- oder Waben-Tarifierung und undurchsichtigen Mitnahmeregelungen)
  • Flexible Nutzungsdauer (statt einmonatiger Gültigkeit und Abonnementmodell mit eigenständiger Kündigung)
  • Nutzungsabhängige Preise durch flexible Gestaltung der geografischen Gültigkeitsbereiche (statt deutschlandweiter Gültigkeit und damit einhergehend hohem Preis)
  • Eine breitere Verkehrsmittel-Palette (anstatt einer ausschließlichen Beschränkung auf den Linien-ÖPNV)

Insbesondere verdeutlicht die hohe Relevanz des Preises in der (Nicht-)Kaufbegründung des Deutschlandtickets: Der Preis verändert die Nutzung nicht maßgeblich, vielmehr müssen Preismodelle so gestaltet sein, dass sie an das Mobilitätsverhalten anknüpfen und eine schrittweise Mehr-Nutzung des ÖPNV lohnenswert machen.

In diesem Zusammenhang wollen wir auch darauf hinweisen, dass das Deutschlandticket nicht in allen Tarifgebieten günstiger ist als die konventionellen Abonnements. Für diese Bestandskund*innen scheint der potenzielle Mehrnutzen (Fahrtberechtigung über das bisherige Tarifgebiet hinaus) nicht immer den Aufpreis zum Deutschlandticket zu rechtfertigen.

These 5: Die Lösung für die Gewinnung von Nicht- oder Seltennutzer*innen kann ein digitaler Multimodaltarif mit nutzungsabhängiger Preisgestaltung sein.

Eine Lösung, die die in These 4 genannten Aspekte berücksichtigt und damit den ÖPNV für Nicht- oder Selten-Nutzer*innen attraktiver gestalten könnte, stellt ein digitaler Multimodaltarif mit nutzungsabhängiger Preisgestaltung dar.

Um beim Status Quo-Nutzungsverhalten von der genannten Zielgruppe anzusetzen, könnte der Tarif nach Nutzungshäufigkeit bepreist werden, aber Preisdeckel für geringe Nutzungsdauern von bspw. einem Tag oder einer Woche bis 49 EUR im Monat beinhalten (siehe bspw. eezy.nrw – der eTarif für ganz NRW). Damit könnte sich dieser Tarif für Selten-Nutzer*innen preislich lohnen. Forscher*innen[9] schlagen zudem eine Tageszeiten-abhängige Bepreisung vor, um so die individuelle Preisbereitschaft der Nutzer*innen zu berücksichtigen und gleichzeitig die Auslastung und damit Qualität des ÖPNV zu optimieren.

Als einen weiteren Lösungsbestandteil für die Verkehrsverlagerung sieht die Empfehlung des Forscher*innen-Teams zudem ein Maut-Modell für Innenstädte als vor, mit dem die Attraktivität des ÖPNV im Verhältnis zum MIV zusätzlich gesteigert, aber auch die Schließung von Finanzierungslücken erreicht werden sollen[10].

Zusätzliche Attraktivität könnte der Tarif durch die Integration einer Bandbreite von anderen Verkehrsmitteln gewinnen, und so den komplexen Mobilitätsbedürfnissen der Nutzer*innen besser gerecht zu werden.

Zusammenfassung: Das Deutschlandticket ist nur der erste Schritt, weitere müssen folgen

Das Deutschlandticket ist bisher insbesondere im Hinblick auf die Zielgruppe der bisherigen ÖPNV-Nutzer*innen aufgrund gutem Preis-Leistungsverhältnis erfolgreich gestartet. Neukund*innen wurden aber bisher wesentlich in den Metropolregionen gewonnen, wo das ÖPNV-Angebot und damit das Preis-Leistungsverhältnis sehr gut sind. Rabatte durch den Erwerb als Jobticket sowie Arbeitgeberzuschüsse fördern die Nachfrage dieser Nutzendengruppe zusätzlich. Wie stark die Kund*innenbindung ist, werden die nächsten Monate zeigen.

Noch sind auch die negativen (durch Preisreduktion ggü. Bestandprodukten) und positiven (durch Neukund*innen) finanziellen Auswirkungen nicht bewertbar. Es ist weiterhin unklar, ob die zugesagten Finanzierungsmittel von 3 Mrd. EUR ausreichen. Somit ist die Kosteneffizienz hinsichtlich Emissionsminderung[9] und weiterer positiver Effekte noch offen.

Im Hinblick auf die Nachfrage der Gruppe der Nicht- oder Seltennutzer*innen des ÖPNV besteht noch Potenzial zur Weiterentwicklung des Tarifprodukts. Was muss zusätzlich passieren, um Nicht- oder Seltennutzer*innen zu erreichen? Es braucht ein einfaches, digitales, grenzenloses Tarifangebot für einzelne Fahrten. Ein Produkt, mit ähnlichem Nutzen, wie das Deutschlandticket, für alle die nicht jeden Monat pauschal 49 EUR zahlen möchten. Siehe „Nahverkehr jenseits des Deutschlandtickets“ (Paywall) für weitere Infos.

 

HINWEIS: Wenige Tage nach der Erstveröffentlichung dieses Beitrags sind erste Auswertungen zu den verkehrlichen Auswirkungen des Deutschlandtickets auf Basis von umfassenden Mobilfunkdaten veröffentlicht wurden. Die Ergebnisse haben wir in These 3 integriert und diese auch inhaltlich auf Basis der Erkenntnisse zu den Verlagerungen angepasst.

 


 

[1] VDV-Rundschreiben VPV  39/2023, URL: https://www.vdv.de/vdvinfodetail.aspx?res=1&id=24093&key=288bf7e5-f713-4412-b140-1bef80523c8c

[2] Hamburger Abendblatt, 13.07.2023, URL: https://www.abendblatt.de/hamburg/kommunales/article238928217/49-Euro-Ticket-boomt-weiter-so-viele-steigen-vom-Auto-um.html

[3] Bayerischer Rundfunk, 01.06.2023, URL: https://www.br.de/nachrichten/bayern/deutschlandticket-zwischenbilanz-verluste-fuer-verkerhsverbuende,TfwBOVf

[4] Buten un binnen, 01.06.2023, URL: https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/bremen-niedersachsen-deutschlandticket–verkaufszahlen-100.html

[5] Bzw. bisherige Produkte wurden auf das Produkt umgestellt

[6] Mehrfachnennungen waren hier möglich.

[7] Infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH, 24.05.2023, URL: https://www.infas.de/wp-content/uploads/2023/05/infas_Pressemitteilung_Deutschlandticket_20230523.pdf

[8] Dpa-Nachricht, bspw. via Tagesschau-Veröffentlichung vom 23.07.2023, URL: https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandticket-verkehrsverlagerung-100.html

[9] RWI Position Paper #82, 27.06.2023, URL: https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/pressemitteilungen/detail/rwi-und-yale-forscher-schlagen-dynamische-preissysteme-als-alternative-zum-deutschlandticket-vor

[10] Die City-Maut als wichtige Säule der ÖPNV-Finanzierung haben wir auch in unserem Gutachten für den Verkehrsverbund Rhein-Sieg (VRS) identifiziert. Lesen Sie hier mehr dazu: https://mobilite.de/aktuelles/oepnv-finanzierung-neu-gedacht-empfehlungen/

20. Juli 2023